DM Braunschweig | Deutscher Rekord aus Mannheimer Küche
Es war ein Moment für die Ewigkeit. 64 Jahre, nachdem der Deutsche Armin Hary bei den Olympischen Spielen 1960 mit seinem Weltrekord von 10,0 Sek. über 100 Meter Sportgeschichte geschrieben hatte, durchbrach Owen Ansah, 23-jähriger Sprinter vom Hamburger SV, als erster Deutscher die 10-Sekunden Schallmauer. 9,99 Sek über 100 Meter sind mehr als eine „Schnapszahl. „Das ist ein historischer Moment für die deutsche Leichtathletik“, konstatierte Jörg Bügner, Vorstand Leistungssport im DLV. Als bei idealen Bedingungen mit 29 Grad im Stadion die 9,99 Sek. auf der Anzeigetafel aufleuchten, brandet frenetischer Jubel der 13.500 Zuschauer im Braunschweiger Eintracht-Stadion auf. Ansah zeigt sich zunächst zurückhaltend, doch als die Zeit bestätigt wird, vollführt auch er Jubelsprünge, wird von seinen Konkurrenten umarmt und gefeiert. Ein Sommermärchen auf einer blauen Bahn.
„Ich glaube es erst, wenn ich es schwarz auf weiß sehe“, rief er immer noch etwas ungläubig. Seine Bestzeit aus dem Jahr 2022 stand bislang bei 10,08 Sek. „Ich wusste, dass es passiert, und heute ist es passiert“, war er dann doch außer sich und wurde zusehends euphorischer. Die Konkurrenz sei da gewesen, aber genau diesen „Push“ habe er für die historische Leistung gebraucht. Eigentlich war Joshua Hartmann (ASV Köln) der Favorit auf den Titel und die erste Zeit eines Deutschen unter zehn Sekunden. Hartmann hatte sich vor einem Jahr in Kassel über 200 Meter mit 20,02 Sek. der nächsten Schallmauer im deutschen Sprint genähert. Auch der 200 Meter-Rekord, mit 20,20 Sek. bis 2023 im Besitz von Tobias Unger (Salamander Kornwestheim) scheint fällig zu sein.
Owen Ansah, dessen Eltern aus Ghana stammen, wurde in Hamburg geboren und war mit 13 Jahren durch seinen Sportleherer („Probiers doch mal“) zur Leichtathletik gekommen, zunächst als Weitspringer, dann als Sprinter. Er startet seit 2018 für den Hamburger Sportverein. „Mein Vater war ehemaliger Leichtathlet, er ist mein großes Vorbild“, brachte er eine persönliche Note in die Jubelarie um den Rekord ein. Den entscheidenden Karriereschritt vollzog er 2019 mit dem Wechsel in die Trainingsgruppe zu Bundestrainer Sebastian Bayer nach Mannheim. „Wenn du weiterkommen willst, musst du immer auch mal aus dem Gewohnten heraustreten“, begründet Ansah diesen Schritt. Seitdem ist er auf der Überholspur.
Bayer, der als Weitspringer mit 8,71 Meter seit 2009 den Hallen-Europarekord hält, betreut am Mannheimer Olympiastützpunkt eines der erfolgreichsten deutschen Leichtathletik-Teams. Neben Owen Ansah holten auch Ricarda Lobe (100 Meter Hürden) und Simon Batz (Weitsprung) in Braunschweig Deutsche Meister-Titel. „Natürlich waren die Bedingungen im Stadion heute ideal“, meinte Bayer nach dem Rennen in den Katakomben des Stadions gelassen. „Wir haben in den letzten Wochen aber sehr hart gearbeitet, und dafür ist Owen heute belohnt worden“. Bayer sei zugleich ein entspannter aber auch relativ harter Trainer, meint der Rekordsprinter. Vor zwei Wochen hatte Ansah bei den Europameisterschaften in Rom als Fünfter über 100 Meter in 10,17 Sek. geglänzt und beendete dabei gleich zwei Durststrecken. Seit 2014 schaffte es nämlich kein deutscher Sprinter mehr in ein europäisches Finale. Zudem hat er erst vor wenigen Monaten eine einjährige, verletzungsbedingte Wettkampfpause überwunden. Sein deutscher Rekord ist deshalb umso bemerkenswerter. „Die Verletzungszeit war schwierig, ich habe aber nie meine Ziele aus den Augen verloren, jetzt fühle ich mich natürlich super“, meinte der groß gewachsene Sprinter.
Owen Ansah passt eigentlich nicht in das Klischee der weltbesten Sprinter, die nicht selten als großmaulige Entertainer auftreten. Weltrekordler Usain Bolt (9,58 Sekunden), Olympiasieger Maurice Greene (9,79 Sekunden) oder Weltmeister Christian Cooleman (9,76 Sekunden) waren hinter der Ziellinie immer noch schnell und laut. Owen Ansah strahlt Minuten nach seinem Coup einfach nur Freude aus und schaut nach vorne. Mit den 9,99 Sekunden hat er auch die Direktnorm zu dem Olympischen Spielen nach Paris geschafft. Doch Ansah weiß um die internationale Konkurrenz und macht sich keine Illusionen. Kishane Thomson hat parallel zur Braunschweiger DM in Kingston den Titel in Jamaika mit 9,91 Sekunden gewonnen. Gewiss, der Abstand ist etwas geringer geworden. Ansah liegt auf Rang 24 der aktuellen Welt-Bestenliste, was seine historische Leistung aus deutscher Sicht nicht schmälert. Immerhin liegt er jetzt inmitten der im Hundertstel-Takt weltweit schnellsten Sprinter aus Jamaika, USA, Italien oder Großbritannien.
Die 10,0 Sekunden-Zeiten eines Olympiasiegers Armin Hary, Olympiasieger von 1960, der bislang als letzter Deutscher wie auch Europäer war, der den 100 Meter-Weltrekord gehalten hat, sind Vergangenheit. „Armin Hary?“, fragte Owen Ansah zurück, „nein, den kenne ich nicht, da bin ich wohl zu jung“. Namen sind nicht selten Schall und Rauch, und Geschichte kann so kurzlebig sein.
Die Entwicklung des Deutschen 100-Meter-Rekords
10,2* | Heinz Fütterer, 31.10.1954 (Weltrekord)
10,0* | Armin Hary, 21.06.1960 (Weltrekord)
10,24 | Harald Eggers, 13.10.1968
10,22 | Klaus-Dieter Kurrat, 06.08.1976
10,14 | Eugen Ray, 26.06.1977
10,12 | Eugen Ray, 13.08.1977
10,06 | Frank Emmelmann, 22.09.1985
10,05 | Julian Reus, 26.07.2014
10,03 | Julian Reus, 24.06.2016
10,01 | Julian Reus, 29.07.2016
9,99 | Owen Ansah, 29.06.2024
*) Handzeiten